Gemeinsam gegen Kinderarmut. RAG-Stiftung und die Stadt Gelsenkirchen ziehen erste Zwischenbilanz des Projekts "Zukunft früh sichern“
Gelsenkirchen/Essen, 16.September 2020. Die kürzlich veröffentlichten Zahlen der Bertelsmann-Stiftung belegen: Gelsenkirchen ist besonders von Kinderarmut betroffen. Allein im Stadtteil Ückendorf leben 45 Prozent der Kinder in Armut, über 50 Prozent sind auf Transferleistungen angewiesen. Diese Zahlen sind jedoch nicht neu und so auch nicht der Wille, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Bereits vor eineinhalb Jahren haben sich die Stadt Gelsenkirchen und die RAG-Stiftung zusammengetan, um im Schulterschluss gegen Kinderarmut in Gelsenkirchen vorzugehen. Das Ergebnis dieser Kooperation: das regionale Leitprojekt gegen Kinderarmut „ZUSi – Zukunft früh sichern“.
„Zukunft früh sichern“ führt die bei der Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung – GeKita – bereits vorhandene Präventionskette fort und nimmt dabei die Armutsprävention und Talentförderung von vier- bis sechsjährigen Kindern in sieben städtischen Kitas im Stadtteil Ückendorf sowie die gelingende Übergangsgestaltung von der Kita in die Grundschule in den Blick. Ziel des dreijährigen Modellprojekts ist es, durch den Einsatz von insgesamt sieben pädagogischen Fachkräften, welche als ZUSi-Bildungsbegleiterinnen und Bildungsbegleiter fungieren, den Blick auf die individuellen Stärken von Kindern zu richten, ihre Talente zu entdecken und sie durch zusätzliche Angebote zu fördern. Zentral ist dabei die enge Zusammenarbeit zwischen den pädagogischen Fachkräften in den Kitas, den Eltern, den Grundschulen und unterschiedlichen Bildungsträgern vor Ort. Hierbei werden explizit alle Kinder in den Blick genommen, ungeachtet der Einkommenssituation ihrer Eltern.
Annette Berg, Bildungsdezernentin der Stadt Gelsenkirchen, ist stolz auf die Initiative: „Wir führen hier das bundesweit erste Projekt durch, welches die konkrete Wirkung mit dem Ziel der Talent- und Potenzialförderung kindscharf im Blick hat. Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation durch das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik ISS e. V. ermöglicht uns, wissenschaftlich fundierte Echtzeitanalysen zu nutzen und später für die Fachkräfteausbildung bundesweit zur Verfügung zu stellen. Hier nimmt Gelsenkirchen eine wirkliche Vorreiterrolle ein.“
Bärbel Bergerhoff-Wodopia, Mitglied des Vorstands der RAG-Stiftung, ergänzt: „Zahlen, wie die der Bertelsmann-Stiftung, sind immer wieder erschütternd. Sie sind jedoch nicht neu und wir fördern bereits seit vielen Jahren Projekte für eine bessere Zukunft von Kindern und Jugendlichen im Revier. Mit „Zukunft früh sichern“ ist es uns gelungen, alle relevanten Akteure an einen Tisch zu bringen und gemeinsam eine wirkliche Veränderung für die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten der heute Vier- bis Sechsjährigen anzustoßen. Die Willenskraft und die Innovationen, von denen das Projekt getrieben wird, stehen ganz im Zeichen der Bergbautradition“.
Armut ist mehr als ein Mangel an Geld. Sie beraubt Menschen ihrer materiellen Unabhängigkeit und damit der Fähigkeit, selbst über ihr Schicksal und das ihrer Kinder zu entscheiden. Familiäre Armut wirkt sich mittelbar auf alle Lebensbereiche der Kinder aus. Bereits im Alter von vier Jahren zeigen arme Kinder häufiger Schwierigkeiten im sozialen und emotionalen Verhalten, die wiederum das Risiko von sozialer Isolation bergen. Kinder aus armen Familien sind deutlich zurückhaltender in der Kita, bringen sich weniger in die Gruppe ein und erfahren früh eine beginnende Ausgrenzung, wie ausbleibende Einladungen zu Kindergeburtstagen.
Arme Kinder haben, wie alle Kinder, Begabungen und Talente. Oft werden diese vor dem Hintergrund der wahrgenommenen Defizite jedoch nicht sichtbar. So verdecken Sprachschwierigkeiten die schlauen Ideen und Fragen der Kinder. Wo sportliches Talent keine Möglichkeiten zum Ausprobieren von Sportarten hat, kann es sich nicht entfalten. Die Förderung von Stärken eröffnet nicht nur Entwicklungschancen, sondern ist auch eine Quelle von Selbstwert und dem Gefühl, etwas erreichen zu können. Dies sind neben verlässlichen sozialen Beziehungen die Grundpfeiler von Resilienz, also der Fähigkeit, auch schwierige Lebensumstände und Krisen gut zu bewältigen. Eine Fähigkeit, die alle Kinder für einen erfolgreichen Start ins Leben brauchen ungeachtet der Einkommenssituation ihrer Eltern.
Genau hier setzt „Zukunft früh sichern an“. Erste Untersuchungen im Rahmen des Projekts haben ergeben, dass nur 45 Prozent der armen Kinder eine altersgemäße Sprachentwicklung haben. Unter den Kindern aus finanziell besser situierten Familien ist dieser Anteil mit 70 Prozent fast doppelt so hoch. Dabei ist Sprache eine entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Bildungsbiografie und soziale Teilhabe. Für ZUSi wurde deshalb eine Vielzahl von Angeboten zur Sprachförderung entwickelt: Regelmäßige Waldtage bieten zum Beispiel den Zugang zu dem für viele Kinder neuen Erfahrungsraum Wald unter Begleitung des Försters. Dort eröffnen sich den Kindern neue Sprachgelegenheiten und Wörter, aber auch Kreativität, Bewegung und die seelische Gesundheit werden durch das Erkunden des Waldes spielerisch gefördert.
Grobmotorische Betätigungen sind ebenfalls häufiges Talent und Interesse der Kinder – in Ückendorf haben jedoch nur 52 Prozent der armen Kinder, aber auch 63 Prozent der nicht armen Kinder, mit vier Jahren ein altersgemäßes Entwicklungsniveau erreicht. Oft fehlt es den Familien an Möglichkeiten, dieses Interesse auszuleben, etwa aufgrund von beengtem Wohnraum oder mangelnden Möglichkeiten zur Nutzung von (kostenpflichtigen) Sportangeboten. Bei ZUSi werden die Interessen der Kinder aufgegriffen, um eine Vielzahl von passenden Angeboten zu machen. So fand in Zusammenarbeit mit dem Radclub Buer-Westerholt und der Forststation Rheinelbe beispielsweise am Samstag, 12. September 2020, ein großer Aktionstag statt. Im Anschluss können Kinder an einer Fahrrad- oder einer Laufrad-AG direkt in ihren Kitas teilnehmen.
Nicht zuletzt zeigen viele der armen Kinder auch Tendenzen zum sozialen Rückzug –
nur 54 Prozent der ZUSi-Kinder erreichen eine altersgemäße Entwicklung ihrer sozialen Kompetenzen. Durch unterschiedliche Aktionen, wie Kindergeburtstage in der Kita, Spieleverleih für Zuhause oder Resilienzstunden wirkt „Zukunft früh sichern“ dieser Entwicklung entgegen und fördert die soziale Teilhabe aller Kinder.
Das Modellprojekt arbeitet noch bis April 2022 in Gelsenkirchen-Ückendorf. Eine Verstetigung über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus wird mittels wissenschaftlicher Handreichungen für die Aus- und Fortbildung der pädagogischen Fachkräfte bundesweit angestrebt. Zudem ist eine Publikation der Erkenntnisse über eine Online-Plattform geplant. Frau Bergerhoff-Wodopia bestärkt die Bedeutung dieses Transfers. Annette Berg wird sich künftig einer neuen Aufgabe widmen. Sie war als Bildungsdezernentin eine starke Fürsprecherin und Unterstützerin des regionalen Leitprojekts gegen Kinderarmut ZUSi. Frau Bergerhoff-Wodopia bedauert ihren Weggang und unterstreicht: „Frau Berg war von Beginn an mit Herzblut und Engagement dabei. Die RAG-Stiftung und auch ich persönlich sind ihr für diesen Einsatz sehr dankbar. Ich wünsche ihr für ihren weiteren Weg viel Erfolg und weiß, dass sie auch an ihrer neuen Wirkungsstätte die Belange von chancenbenachteiligten Kindern und Jugendlichen nicht aus den Augen verlieren wird.“
Projekteinrichtungen „Zukunft früh sichern“
- Städt. Tageseinrichtung für Kinder und Familienzentrum Bochumer Straße
- Städt. Tageseinrichtung für Kinder Flöz Sonnenschein
- Städt. Tageseinrichtung für Kinder Heidelberger Straße
- Städt. Tageseinrichtungen für Kinder Hohenfriedberger Straße
- Städt. Tageseinrichtung für Kinder und Familienzentrum Leithestraße
- Städt. Tageseinrichtung für Kinder und Familienzentrum Munscheidstraße
- Städt. Tageseinrichtung für Kinder und Familienzentrum Ückendorfer Straße
Pressekontakt
Sabrina Manz
Leiterin Presse und Öffentlichkeitsarbeit der RAG-Stiftung
sabrina.manz(at)rag-stiftung.de
+49 201 378 3366